BSVÖ: Unmusikalisch. Blinde Menschen können doch keine Musik machen. Mythen der Barrierefreiheit Teil 12.
Mythen der Barrierefreiheit © BSVÖ
Mythen der Barrierefreiheit. Grafik eines Menschen mit Brile, Taststock und Hund, um ihn Fragezeichen.
Maria Theresia von Paradis, Stevie Wonder, Joana Zimmer, José Feliciano, Ray Charles und viele mehr haben es vorgemacht: natürlich gibt es sie, die blinden Musiker:innen. Aber wie funktioniert das Musizieren, ohne Noten zu sehen und einstudieren zu können? Mehrere Wege führen ans melodische Ziel, aber so viel schon vorweg: Noten können auch ertastet werden, ob Sie es glauben oder nicht!
Wer sich als Kind tapfer durch die Notenlehre geplagt hat, wer Fingersätze einstudierte und allwöchentlich in die Musikschule pilgern musste, um dort am Leihinstrument das Können zu verbessern, weiß: ein Instrument zu lernen und sich im Notendschungel zurechtzufinden, bedeutet viele Stunden des Übens. Und gerade das Erlernen der schwarzen Pünktchen in ihren Linienbetten, kann zu Beginn zu einer echten Nervenprobe werden. Für viele stellt das Notenlernen aber die absolute Grundlage dar, um Musikstücke spielen zu können. Dazu kommen viele Stunden an Musiktheorie, die das Wissen abrunden sollen.
Natürlich ist es auch möglich, einen viel freieren Weg zu wählen und Musik nach dem Gehör zu spielen. Beispiele für Musiker:innen, die laut eigener Aussage ihr ganzes Leben lang ohne Notenkenntnis ausgekommen sind, gibt es genügend. Und ja, nicht für alle Instrumente gibt es auch ein klassisches Notationssystem. Für viele reicht die Kenntnis der Tonart, um in den Song zu finden – davon können etwa Jazzmusiker:innen ein Lied singen.
Immer an die Partitur halten!
Für klassische Symphonieorchester aber gilt: wer eine Mozart-Symphonie oder eine Bach-Kantate aufführen möchte, tut gut daran, sich an die Noten zu halten.
Wie also kommen Phänomene wie das Blindenorchester zusammen, wenn klassische Notenblätter nicht zum Erlernen herangezogen werden können? Eine mögliche Antwort lautet: Braille!
Ja, es gibt sie, die Braille-Notenschrift. Und sie ist für viele blinde Musiker:innen die Grundlage zum Einstudieren von Musikstücken. Da zum Spielen der meisten Instrumente aber zwei Hände nötig sind, ist das Einstudieren neuer Stücke für manche Musiker:innen in mehrere Schritte aufgeteilt. Manche lernen zuerst die Noten auswendig und übertragen ihre Kenntnis dann in die Praxis. Andere erarbeiten sich die Musik in einem engen Abgleich von Braille-Notenlesen und der Übertragung auf das Instrument.
Barrierefreies Notenmaterial
In letzter Zeit sind verschiedene neue Technologien ausgebaut worden, die das Erlernen von Musik für blinde und sehbehinderte Menschen erleichtern sollen. Leon Lu der Carleton University fasst in einem Artikel den aktuellen Stand der Dinge zusammen:
Sehbehinderte Musikschüler haben mit Hilfe von Bildschirmlesegeräten, die eine Vergrößerung, ein Schwenken und einen hohen Kontrast zur Unterstützung des Notenlesens ermöglichen, Zugang zu Musikpartituren, während neuere Entwicklungen eine freihändige Navigation mit Hilfe eines Fußpedals, sowie eines Heads-up-Displays ermöglichen. Goldstein stellt fest, dass Musikpartituren alternativ in Braille-Musik transkribiert werden können, was es BVI-Musikschülern ermöglicht, Töne, Oktaven und Zeitangaben mit Hilfe von Braille-Zeilen zu lesen.
Für viele Musiker:innen sei das Erlernen via Braille-Noten allerdings zu umständlich. Hierzu heißt es:
Blinde und sehbehinderte Musiker:innen widersetzen sich jedoch dem Erlernen der Braille-Schrift, da sie die Symbole verwirrend und das gleichzeitige Lesen und Spielen von Musik umständlich und unnötig finden. Dennoch müssen sie die ganze Partitur auswendig lernen, um sie spielen zu können.
Die zentrale Herausforderung bei der Zugänglichkeit des Notenlesens liegt in der Modalität der Interaktion, da herkömmliche Hilfstechnologien Klang und Berührung nutzen, um Informationen zu vermitteln, während BVI-Musikschüler ihre Hände und Ohren benutzen müssen, um Musik zu spielen und zu lernen. Eine vielversprechende Entwicklung, die auf der Idee der sensorischen Substitution basiert, ist ein tragbarer haptischer Handschuh mit Motoren an jedem Finger, die als haptisches Signal vibrieren, um einen Knopf synchron zur Hintergrundmusik zu drücken, was es BVI-Nutzern ermöglicht, das Spiel Guitar Hero zu spielen. Alternativ könnte auch die elektrotaktile Stimulation der Zunge genutzt werden, um Echtzeitinformationen über eine Musikpartitur zu vermitteln. Es gibt auch vielversprechende Entwicklungen.
Orchesterarbeit
Keine Noten, kein Dirigent und dennoch große Harmonie – das kennzeichnet „Blindenorchester“ weltweit. Das britische Orchester „Inner Vision“ wurde 2012 gegründet und ist das einzige Blinden- und Sehbehindertenorchester Großbritanniens, aber auch in Frankreich, Korea, Ägypten gibt es Orchesterformationen, deren Musiker:innen beinahe ausschließlich oder zur Gänze aus Menschen mit Sehbehinderungen bestehen.
Auch in Österreich gibt es seit einigen Jahren mit dem Sonnenorchester ein Salzburger Projekt, das blinde Musiker:innen fördert und in einem Orchester vereint. Das Sonnenorchester gibt jedes Jahr gleich mehrere Konzerte und erfreut sich zurecht großer Beliebtheit. Für kommende Termine und Tickets besuchen Sie:
Kontakt: salzburg@sonnenorchester.at