BSVÖ: Weiße Stöcke sind dazu da, andere Menschen aus dem Weg zu räumen. Mythen der Barrierefreiheit, Teil 10.
Mythen der Barrierefreiheit © BSVÖ
Mythen der Barrierefreiheit. Grafik eines Menschen mit Brile, Taststock und Hund, um ihn Fragezeichen.
Der weiße Stock ist neben der Dreipunktschleife und einer Sonnenbrille eines der Merkmale, das viele mit Blindheit verbinden. Alles Klischee? Ja, aber dennoch spielt der Langstock eine wichtige Rolle. Aber wozu dient er eigentlich? Und ist was dran an dem Gerücht, dass er dazu verwendet wird, sich den Weg freizuräumen?
Waffenschein benötigt?
Am 15.10. war Tag des Weißen Stockes, ein internationaler Aktionstag. Grund genug, sich einem Mysterium anzunehmen, das rund um den Langstock besteht: die meisten kennen ihn und verbinden mit ihm eindeutig blinde und sehbehinderte Menschen. Aber wie er wirklich zum Einsatz kommt, ist dann schon wieder vielen nicht klar. In einer Umfrage unter Schüler*innen zeigten sich die meisten überzeugt davon, dass der Langstock quasi das weniger gefährliche Äquivalent zur Machete ist, mit der man sich durch unwegsames Unterholz schlagen kann. Ein Schüler war auch der Meinung, der Stock könne im Notfall wie ein Degen eingesetzt werden und Menschen, die rempeln oder unaufmerksam mit den blinden und sehbehinderten Personen umgehen, aus dem Weg duellieren.
Nun, so verlockend das auch klingen mag, müssen wir doch auflösen: der Langstock ist keine Waffe und kommt auch nicht als Instrument zum Einsatz, das dazu geeignet ist, sich den Weg durch Menschenmengen zu mähen.
Gehhilfe?
Eine Annahme, die bei der Umfrage auch aufkam, war: Der Langstock ist die schlankere und schickere Ausgabe eines gewöhnlichen Gehstockes. Aber nein, auch das ist falsch. Wer schon einmal einen Langstock in der Hand gehabt hat, weiß, wie biegsam aber filigran er ist. Wer sich zu fest darauf stützt, tut sich und dem Stock keinen Gefallen.
Stockarbeit
Um es kurz zu machen: der Langstock ist ein essentielles Hilfsmittel, das zur Orientierung verwendet wird und die Mobilität verbessert. Mit Hilfe des Stockes kann taktile Bodeninformation (TBI) etwa in Form von Bodenleitlinien erkannt werden und an ihnen entlang navigiert werden. Er hilft aber auch beim Erkennen von Bodenunebenheiten, Gehsteigkanten, Stufen oder Begrenzungen. Außerdem erreicht er Hindernisse im besten Fall, bevor der eigene Körper dagegen kracht. In Pendelbewegung ist er eine Frühanzeige für alles, was einen am Weg erwartet.
Der Umgang mit dem Langstock muss aber gelernt werden und seine Benützung ist kein Garant dafür, dass keine Unfälle geschehen. Durch seine breite Bekanntheit ist er aber auch ein Signal an andere, den Weg freizumachen und bei Bedarf proaktiv Hilfe anzubieten.
Ein wichtiges Signal in weiß!
Der Langstock kann in Teilen auch eine andere, meist helle Färbung haben. Aber in der Regel ist er weiß. Das hat einen guten Grund: der Langstock muss auch für andere Verkehrsteilnehmer:innen ein Signal dafür sein, dass hier ein blinder oder sehbehinderter Mensch unterwegs ist. Somit erfüllt der Langstock im Verkehr eine doppelte, wichtige Aufgabe: einerseits hilft er blinden und stark sehbehinderten Menschen, sich zu orientieren, andererseits hat er Signalwirkung für sein Umfeld.
Der entsprechende Gesetzestext lautet folgendermaßen:
(Auszug aus der Straßenverkehrsordnung)
"§ 3. Vertrauensgrundsatz.
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme; dessen ungeachtet darf jeder Straßenbenützer vertrauen, dass andere Personen die für die Benutzung der Straße maßgeblichen Rechtsvorschriften befolgen, außer er müsste annehmen, dass es sich um Kinder, Menschen mit Sehbehinderung mit weißem Stock oder gelber Armbinde, Menschen mit offensichtlicher körperlicher Beeinträchtigung oder um Personen handelt, aus deren augenfälligem Gehaben geschlossen werden muss, dass sie unfähig sind, die Gefahren des Straßenverkehrs einzusehen oder sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten.
(2) Der Lenker eines Fahrzeuges hat sich gegenüber Personen, gegenüber denen der Vertrauensgrundsatz gemäß Abs. 1 nicht gilt, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so zu verhalten, daß eine Gefährdung dieser Personen ausgeschlossen ist."
Ist der Langstock nicht weiß, kann er auch nicht als „Verkehrsschutzzeichen“ wahrgenommen werden. Für alle, die im Straßenverkehr, als Fußgeher:innen, Rad- oder Rollerfahrer:innen, im Auto oder auch im Rolli unterwegs sind, gilt also: wenn sie eine Person mit weißem Stock wahrnehmen, ist in der Interaktion besondere Aufmerksamkeit gefragt!
Lang oder geklappt?
Die meisten moderneren Modelle können mit wenigen Handgriffen auseinandergenommen und klein gefaltet werden. So lässt er sich zwischendurch bequem verstauen und ist nicht im Weg. Eine speziell verstärkte und gerundete Spitze ist meist ebenso zu finden wie eine elastische Schlaufe am oberen Ende.
Selbstversuch
In Sensibilisierungstrainings können auch Menschen ohne Sehbehinderung erfahren, wie es sich anfühlt, mit Dunkelbrille und Taststock unterwegs zu sein und welche Herausforderungen die Navigation mit dem Langstock mit sich bringen kann. Wir ermutigen Menschen allen Alters dazu, solche Gelegenheit zu nutzen und in einem geführten und geschützten Raum die Erfahrung zu machen, mit Langstock unterwegs zu sein. Die meisten unserer Landesorganisationen bieten Interessierten oder auch Firmenmitarbeitenden die Möglichkeit, an einem Sensibilisierungstraining teilzunehmen. Erkundigen Sie sich hierfür direkt unter: www.bsv-austria.at!