Der Durchblick: Warum die Europawahlen uns alle betreffen
Niemanden interessiert’s – aber alle betrifft’s!
Ein Kinobesuch, ein Schnitzel oder eine Flugreise: Warum die Europawahl 2024 uns alle was angeht.
Jetzt möchten viele schon gar nicht weiterlesen, weil jetzt kommt wieder so ein langer, trockener Text über Richtlinien und Statistiken und die EU, die mit uns sowieso viel zu viel oder viel zu wenig zu tun hat, je nach Thema und Sichtweise. Ich kann auch nicht versprechen, dass es jetzt ganz ohne Zahlen oder sperrige Begriffe zugeht, aber vielleicht geben Sie dem Text trotzdem eine Chance, denn: am 9. Juni 2024 wird auch Ihre Zukunft entschieden. Klingt dramatisch? Vielleicht. Wir finden: die 7 wichtigsten Forderungen von blinden und sehbehinderten Menschen an das neue Europaparlament haben ein bisschen Dramatik verdient. Aber lesen Sie selbst.
Wählen und gewählt werden
Bei einer Wahl müssen wir natürlich zuerst über das Wählen an sich reden, das für alle Menschen, mit und ohne Behinderung, frei und geheim möglich sein muss. Konkret heißt das, dass es barrierefreie Informationen geben muss und dass selbständig oder mit selbst bestimmter Assistenz gewählt werden darf. Wenn Sie Hilfe benötigen, dürfen Sie also selbst entscheiden, ob Sie lieber mit einem Wahlhelfer oder mit der Tante Mizzi in die Kabine gehen, je nachdem, bei wem die Gefahr geringer ist, dass das Kreuzerl am Ende zu weit rechts oder links dasteht. Und wenn Sie ohnehin der Meinung sind, dass nur Sie die einzig wählbare Alternative sind, dürfen Sie natürlich trotz ihrer Behinderung zur Wahl antreten. Sollte alles selbstverständlich sein. Ist es aber nicht. Neben Österreich haben nur 7 andere Mitgliedsstaaten dieses Recht verankert und auch bei der selbständigen, barrierefreien Wahl ist EU-weit viel Luft nach oben.
Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen
Die Pflicht zur Gleichbehandlung gibt es in der EU bisher nur am Arbeitsmarkt. Das ist gut, geht aber nicht weit genug. Wir fordern deshalb eine allgemeine EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung von Menschen mit Behinderungen. Der Entwurf dazu ist auch schon lange fertig, wird vom Rat aber immer wieder blockiert…
Beschäftigung
Bleiben wir gleich beim Stichwort Arbeitsmarkt. Wir kennen alle die unerfreulichen Arbeitslosenraten unter Menschen mit Behinderungen. Diese sind auch innerhalb der EU als Ganzes nicht schöner. Besonders bedenklich: Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind nur knapp 47 Prozent in Lohnarbeit. Hier muss das neu gewählte Parlament ansetzen und Ausbildungen zugänglicher und inklusiver machen und mehr Fördermittel bereitstellen.
Barrierefreiheit
Mit dem Europäischen Barrierefreiheitsgesetz wurde ein wichtiger Schritt getan, um insbesondere digitale Güter zugänglicher zu machen. Wir finden, das war ein guter Anfang. Wenn jetzt noch die bauliche Barrierefreiheit folgt, sind wir fast zufrieden. Naja, und nicht digitale Güter wären auch nicht unwichtig. Haushaltsgeräte zum Beispiel. Dann wäre nicht nur das Bezahlen des veganen Schnitzels im Supermarkt barrierefrei, sondern auch der Weg dorthin und nachhause, wo man sich selbiges dann sogar ohne fremde Hilfe braten könnte.
Ein europäischer Behindertenausweis
Wie schön wäre es, wenn Ihr Behindertenstatus und die damit verbundenen Vergünstigungen auch in anderen Ländern anerkannt würden? Wenn Sie im Urlaub, auf Dienstreise oder während eines Auslandssemesters die landesüblichen Vorteile im öffentlichen Verkehr, in Museen oder bei der Anschaffung von Hilfsmitteln genießen könnten? Sehr schön, finden wir. Und in einer Institution wie der Europäischen Union längst überfällig.
Reisen und Verkehr
Wir bleiben beim Thema Reisen. Hier ist eine Überarbeitung der entsprechenden Richtlinie notwendig, um beispielsweise zu verhindern, dass Personen mit Sehbehinderung oder deren Assistenzhunden aus so genannten Sicherheitsgründen der Transport in Flugzeugen verboten wird. Auch die Ausweitung der Assistenz im Bus- und Bahnverkehr ist ein wichtiges Thema.
Was die Sicherheit im Verkehr betrifft, müssen die Regelungen zu Elektro- und Hybridfahrzeugen verschärft werden. Das Verbot eines Pauseschalters für das Warnsystem und eine geeignete Lautstärke, damit es auch wirklich gehört wird, sind nötig. Und auch wenn es noch ein bisschen dauert, bis wir alle von selbstfahrenden Autos oder raketenbetriebenen E-Scootern kutschiert werden – die Union muss garantieren, dass die sichere, selbständige Mobilität auch für Menschen mit Sehbehinderungen bei allen zukünftigen Entwicklungen gegeben ist.
Bücher und Filme
Wenn die Hörbücherei des BSVÖ ein Buch für Sie barrierefrei macht – es also als Hörbuch aufspricht und dann verschickt oder online stellt – muss sie nicht nur die Kosten für diesen Aufwand tragen, sondern auch Geld an die Urheber des Buches zahlen. „Moment!“, denken Sie als aufmerksame Leser_innen unserer Artikel jetzt vielleicht. „Gab es da nicht diesen Vertrag von Marrakesch, der den Austausch von barrierefreien Büchern weltweit ermöglichen sollte?“ Ja und Nein. Denn: Wenn Urheber es verabsäumen, ihre Werke barrierefrei zur Verfügung zu stellen, wozu sie im Rahmen der UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich verpflichtet wären, bekommen sie Geld dafür, dass unsere Hörbücherei dieses Versäumnis korrigiert. Klingt extrem unfair? Ist es auch und sollte mit einer Überarbeitung der EU-Richtlinie zur Umsetzung des Vertrags von Marrakesch dringend verboten werden.
Wenn Ihnen jetzt vor Empörung der DAISY Player aus der Hand gefallen ist und Sie lieber ins Kino gehen, haben wir auch hier eine konkrete Forderung für Sie: Keinerlei Förderung von Filmen, die nicht zu 100 % barrierefrei sind. Aber gut, wir sind ja nicht so. Wir wären schon zufrieden, wenn bis zum Ende der Förderperiode 2027 zumindest 25 % der Filme mit Audiodeskription produziert würden.
Sie sehen also, es gibt viel zu tun. Für uns als BSVÖ, indem wir unsere Forderungen in einer gemeinsamen Kampagne mit der Europäischen Blindenunion gegenüber den zukünftigen Parlamentarier_innen vertreten. Für das neu gewählte Europaparlament sowieso, aber auch für Sie! Denn weiter kommen wir nur gemeinsam. Also: bleiben Sie informiert, engagiert und vor allem: tragen Sie sich den 9. Juni 2024 schon jetzt dick im Smartphone Kalender ein.
Der BSVÖ und die EU
Der BSVÖ ist Mitglied der Europäischen Blindenunion (EBU). Sie wurde 1984 als NGO gegründet und ist die Interessensvertretung für etwa 30 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen in Europa. Die EBU betreibt Lobbyarbeit, führt in Kooperation mit ihren Mitgliedsorganisationen Projekte durch und ist Sprachorgan auf EU-Ebene.
Text: Mag. Stefanie Steinbauer. Erschienen in: Der Durchblick 2/2023.
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Viel Spaß beim Lesen!