BSVÖ: Disability Pride Month III: Wenn jemand eine Reise tut‘
„…dann kann er was erleben!“ So schrieb es der Dichter Matthias Claudias im ausgehenden 18. Jahrhundert. Und tatsächlich: wer zu dieser Zeit unterwegs war, mit Postkutsche oder zu Fuß, musste sich wohl auf einiges gefasst machen. Zum Glück ist Reisen heutzutage unkompliziert und bequem! Oder doch nicht? Blinde und sehbehinderte Menschen können in Sachen Mühen, Barrieren und Überraschungen beim Reisen wohl so einiges erzählen…
Reiselust und Barrierenfrust
Manche Reisen gehen in die weite Ferne. Kofferpacken, Flug, fremdartiges Essen, neue Sprachen – ein aufregendes Erlebnis für alle, die sich gerne in ihnen unvertraute Länder und Kulturen begeben. Fasst man den Begriff enger, kann eine Reise für blinde und sehbehinderte Menschen aber schon zum Abenteuer werden, wenn sie unbekannte Strecken umfasst. Für Emmi A. etwa bedeutet es immer einiges an Vorbereitung, bis die unternehmungslustige Pensionistin neue Orte besuchen kann. Vor allem, wenn sie öffentlich anreisen möchte. „Natürlich wäre es einfacher, ein Taxi zu rufen und mich ans Ziel bringen zu lassen“, meint sie dazu. „Aber das geht ganz schön ins Geld.“ Außerdem hieße das nicht, vor Ort auch gleich genau da zu sein, wo sie hinmüsse. „Es ist mir schon passiert, dass mich Taxis auf der anderen Seite des Häuserblockls haben aussteigen lassen, weil sich dort eine günstige Parkmöglichkeit ergeben hatte. Als ich drauf los ging, merkte ich recht schnell, dass da was nicht stimmte. Das ist wirklich ärgerlich!“
Seit sie ein Smartphone besitzt, das mit gleich mehreren Navigations-Apps ausgestattet ist, fällt es ihr leichter, auch allein ans Ziel zu finden. Aber dennoch bleiben die Hürden bestehen: Umleitungen, Ausfälle im öffentlichen Verkehr, Baustellen, fehlende Ansagen, gesperrte Straßenzüge, fehlende Leit- und Orientierungssysteme…die Liste kann noch lange fortgesetzt werden. Sich selbst in einem bekannten Umfeld sicher und zielgerichtet zu orientieren, kann für blinde und stark sehbehinderte Menschen zu einer lästigen und mitunter sogar nicht ungefährlichen Herausforderung werden.
Hier fehlt geplante und gelebte Inklusion; ein Umstand, den auch Dr. Markus Wolf, Präsident des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Österreich (BSVÖ) kritisiert: „Sich als blinder oder stark sehbehinderter Mensch selbstständig, sicher und ohne fremde Hilfe im öffentlichen Raum bewegen zu können, darf kein Luxus sein.“ Dennoch wird Barrierefreiheit nicht selten als Goodie oder Zugeständnis betrachtet. Dabei ist sie eine Notwendigkeit, die nicht nur für die rund 318.000 blinden und sehbehinderten Menschen in Österreich lebenden Menschen grundlegend ist, sondern auch allen anderen zugutekommen kann. Dass sichere Verkehrsteilnahme und selbstbestimmte Mobilität für alle Menschen gilt, bleibt derweil in vielen Fällen noch Utopie. „Es sollte aber selbstverständlich sein, weil auch das ein Menschenrecht ist“, fügt Präsident Wolf an.
Einmaleins der inklusiven Mobilität
Wie immer gilt: Orientierungshilfen, die im Mehrsinneprinzip ausgeführt sind, haben ein größeres Potential, für mehrere Menschen barrierefrei und nutzbar zu sein. Das gilt für Ampelsysteme, die zum Aufleuchten der Farben auch noch mit einem akustischen Signal ausgestattet sind, um ein sicheres Queren zu ermöglichen, es gilt aber auch etwa für das Schließen von Türen im öffentlichen Verkehr, die zusätzlich zu einem Signalton und einer Ansage mit einem Warnlicht ausgestattet sind. Darüber hinaus umfasst inklusive Mobilität aber selbstverständlich mehr: Durchsagen an Doppelhaltestellen, die die jeweilig einfahrende Linie erkennbar machen, das Halten an dafür vorgesehenen und taktil auffindbaren Haltefeldern, um das Einsteigen zu erleichtern, durchdachte Leitsysteme und Orientierungspläne auf größeren Bus-, Bahn- und Flughäfen. Nicht zu vergessen wären auch Informationen zum Ticketkauf und zum Streckenverlauf, die schon vorab barrierefrei eingeholt werden können. Zusätzliches ausgebildetes und sensibilisiertes Personal vor Ort – etwa auf größeren Bahnhöfen – spielt ebenfalls eine wichtige Rolle im Weiterkommen.
Wer streckenweise zu Fuß unterwegs ist, muss sich darauf verlassen können, keinen Gefahren ausgesetzt zu sein und dass alle Verkehrsregeln auch eingehalten werden können. Das heißt, dass Gehwege mühelos aufgefunden und von Straßen und Radwegen unterschieden werden können, dass taktile Bodenleitsysteme (sogenannte TBIs) und tastbare Orientierungshilfen an markanten Punkten (etwa Handläufen beim Verlassen von Bahnstationen) vorhanden sind und dass keine Hürden in den Weg gestellt werden (dazu zählen Gegenstände jeder Art, die, oftmals gedankenlos, mittig auf Gehwegen platziert werden).
Aufeinander achtgeben
Einer der wichtigsten Punkte barrierefreier Mobilität ist die Rücksichtnahme der Verkehrsteilnehmenden untereinander. Begegnungszonen können Bereiche des Miteinanders sein oder zu einem gefährlichen Durcheinander werden, wenn nicht auf alle Anwesenden aufgepasst wird. Vor allem das Aufkommen der E-Mobilität mit geräuscharmen Fahrzeugen und E-Rollern hat in den letzten Jahren verstärkt dazu geführt, dass die sichere und selbstbestimmte Mobilität blinder und sehbehinderter Menschen gefährdet wurde. Der Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich appelliert deswegen einmal mehr an E-Scooter-Nutzer:innen und auch an Verleihfirmen, rücksichtsvoll und bedacht unterwegs zu sein und dafür zu sorgen, dass die Gefährte nach der Fahrt korrekt abgestellt werden.
Orientierung will gelernt sein
Blinde und sehbehinderte Menschen müssen, um sich möglichst eigenständig und sicher orientieren zu können, auf verschiedene Techniken und Hilfsmittel verlassen können. Zu den zwei wohl prägnantesten Hilfen zählen neben dem weißen Langstock auch die speziell geschulten Führhunde. Aber auch andere Strategien tragen zur selbstbestimmten Mobilität bei. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass all dies erlernt werden muss, um möglichst gut zu glücken. Im Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M-Training) etwa können sich blinde und sehbehinderte Menschen in verschiedenen Strategien und Fertigkeiten schulen lassen, die sichere Mobilität – auch in fremder Umgebung – ermöglichen sollen.
Hilfe gefragt?
„Es ist mir schon passiert, dass mich jemand am Arm genommen und quer über eine Kreuzung gezogen hat. Dabei wollte ich gar nicht auf die andere Seite“, erzählt Emmi A. In der Regel aber sind die meisten Passant:innen sehr freundlich und hilfsbereit. „Wichtig ist, dass sie mit mir reden. Dass sie mich fragen, wie ob und wie sie mir helfen können. Dann kann ich klare Anweisungen geben und Hilfe annehmen oder dankend ablehnen.“ Niemand müsse eine Scheu davor haben, einfach zu fragen: „Brauchen Sie Hilfe?“. In manchen Situationen hat Frau A. die Hilfe auch angenommen, obwohl es gar nicht dringend notwendig gewesen wäre. „Aber ich nutze das hin und wieder auch gern, um ein bisschen zu sensibilisieren. Meiner Erfahrung nach baut der kurze Kontakt auch Berührungsängste ab. Das kann auch für andere Vorbildwirkung haben.“
Wollen Sie also weiterhelfen, so gilt: machen Sie auf sich aufmerksam und fragen Sie, ob Ihre Unterstützung in diesem Moment benötigt wird!
Auf den Punkt gebracht
Um barrierefreie, sichere und selbstbestimmte Mobilität zu fördern, sind folgende Punkte grundlegend
- von Anfang an mitgedachte und durch Expert:innen umgesetzte Barrierefreiheit in allen relevanten Bereichen des öffentlichen und privaten Verkehrs
- Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmenden
- Schulungsangebot (etwa O&M-Training) für blinde- und sehbehinderte Menschen wie es etwa von den Landesorganisationen des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Österreich angeboten wird
- Förderung und Zurverfügungstellung von Hilfsmittel, die zur Orientierung und Navigation dienen
- Aufmerksame und rücksichtsvolle Passant:innen, die ihre Hilfsbereitschaft kommunizieren.
Weiterführende Links
Alle Landesorganisationen des BSVÖ auf einen Klick: www.bsv-austria.at
Stellungnahmen und Positionspapiere des KMS, GMI und des BSVÖ zu Barrierefreiheitsangelegenheiten: https://www.blindenverband.at/de/information/stellungnahmen
DANOVA-Projekt: https://www.blindenverband.at/de/projekte/danova
Erklärvideo: Das Recht auf persönliche Mobilität (PARVIS & BSVÖ):